Was trägt dich?

„Ein Vogel hat niemals Angst, dass der Ast unter ihm brechen könnte. Nicht weil er dem Ast vertraut, sondern seinen Flügeln.“ (Autor mir zumindest unbekannt)

Ich mag sie sehr, die Botschaft dieses Spruches.

Es ist auffällig, wie sehr manche Menschen sich an einzelne Äste in ihrem Leben klammern und hoffen, dass diese sie tragen und endlich glücklich machen. Freundschaften, Beziehungen, dieser Job, dieses Haus, diese Figur, dieses Projekt, dieser Elternkurs, dieser Umzug….überspitzt formuliert: der trägt mich, der rettet mich, der macht endlich alles gut. Für immer. Die Dinge, Situationen und Beziehungen werden so mit Erwartungen überladen, dass sie oft brechen, weil das Gewicht, das sie tragen sollen, sie zu sehr belastet. Keine Beziehung, kein Mensch kann auf Dauer das Glück eines anderen Menschen tragen. Kein Job dieser Erde, keine einzige Äußerlichkeit und nichts Materielles kann erfüllen und kompensieren was hier fehlt. Menschen suchen im Außen, was sie in ihrem Inneren nicht fühlen können, weil sie es so vielleicht noch nie erlebt haben – das Gefühl stark, gut und liebenswert zu sein so wie sie sind, innerer Halt, Geborgenheit und Getragensein.

Doch, doch, Äste sind wunderbar. Wir dürfen uns fallen lassen. Pause machen. Gewicht abgeben. Wir müssen nicht immer alles selbst und alleine machen. Wir dürfen uns tragen lassen, Hilfe annehmen, sogar aktiv danach fragen. Zwischenmenschliche Beziehungen können so hilfreich und wohltuend sein, wenn wir geben und nehmen ausgeglichen leben können. Es ist ein Geschenk, wenn sich mal der eine ein wenig mehr anlehnt und sich auf den tragenden Ast verlässt und mal der andere – je nach dem was das Leben so mit sich bringt. Erleichternd wirken viele Äste, auf die wir unser persönliches Glück verteilen – den Job, die Freundschaften, die Hobbies, die Beziehungen.

Und neben dem WIR kann uns auch ein klares ICH tragen – die kräftigen Flügel – sie stehen für deine Eigenverantwortung und Selbstsorge. Für das Vertrauen in dich selbst, dass du das schaffen kannst, auch wenn es turbulenter und stürmischer wird – auch wenn es Kraft kostet und du danach etwas zerzaust aussehen wirst. Sie vermitteln auch das klare Gefühl zu wissen, dass da wenn ein Ast wegbricht noch viele andere sind und der Verlust zwar schmerzt, grundsätzlich aber überlebt werden kann.

Wie entstehen diese Gefühle in uns? Fachlich gesprochen entwickelt ein sicher gebundendes Kind diese Grundgefühle im Wechselspiel von Bindung (Äste) und Autonomie (Flügel), von begleitet und unterstützt werden und selbst-machen wollen und dürfen. Es wäre so wunderbar, wenn jedes Kind dieser Erde getragen von diesem Gefühl getragen zu sein groß und flügge werden dürfte. Für uns alle wäre es ein großes Geschenk, wenn jedes Kind so in seinem Leben begleitet und unterstützt werden würde, dass es sein Leben als bewältigbar erlebt. Manchmal getragen von einer weit verzweigten Baumkrone (Familie, Freunde, Hobbies), manchmal getragen von der eigenen Flügelkraft (Selbstwirksamkeit, Stärke, Selbstvertrauen).

Manchen Menschen sind im Laufe ihres Lebens keine Flügel gewachsen, sie wurden gestutzt oder sie sind ihnen mit verschiedenen Erfahrungen und entsprechenden Schlussfolgerungen wieder abhanden gekommen. Sie bleiben am Boden oder suchen sich wie oben beschrieben einen Ast und hoffen. Sie sind sich nicht bewusst, wie viel sie selbst bewirken und beeinflussen können. Oder sie haben Flügel, wollen aber nicht weit fliegen, weil alles Unbekannte angsteinflößend ist, sie vertrauen nicht in ihre eigene Kraft. Andere Vögel flattern ohne Unterlass durch die Gegend, sie erlauben sich nicht mehr auf einem Ast Pause zu machen oder haben erlebt, dass Äste eher nicht vertrauenswürdig sind. Und dann gibt es Vögel, die genießen ihren Flug genauso wie die Pausen. Sie hüpfen von Ast zu Ast und von Baum zu Baum. Sie freuen sich über die Gesellschaft anderer Vögel und lieben es gleichzeitig allein mit dem Wind zu segeln. Ein wichtiger Hinweis: du kannst nach deinen Flügeln suchen, wenn du möchtest und/oder du probierst einmal ein paar Äste aus und wie es sich so anfühlt, mal eine Runde auszuruhen. Und dabei geht es nicht darum, "richtig" Vogel zu sein, nicht um deine Selbstoptimierung. Aber wenn du vielleicht eh schon auf der Suche bist - dann such doch mal da, wo es soviel wunderbares zu finden gibt - in dir selbst.

Was für ein Vogel bist du heute?

Hanna